Es
ist für unsere Kirche nicht gerade ein Ruhmesblatt, daß
ihre ersten beiden urkundlichen Erwähnungen ausgerechnet mit
zwei Bluttaten zusammenhängen! War der Anlaß für die
erste urkundliche Erwähung im Jahre 1301 noch in einer nicht
näher bezeichneten Bluttat begründet, die nur eine einzelne
Person begangen und demzufolge zur Sühne eine jährliche
Buß-Leistung u.a. an unsere Stadtkirche zu erbringen hatte,
so wirft die zweite Erwähnung im Jahre 1303 ein bezeichnendes
Licht auf unser "christliches (und damit oft auch antisemitisches)
Abendland".
Wie es oft bei derlei Ereignissen im Mittelalter ist, hat sich alsbald
die Phantasie und die mystifizierende Verfremdung der Ereignisse bemächtigt.
Es ist daher wohl kaum noch eindeutig zu klären, wie sich die
Vorgänge wirklich abspielten. Zumal diese historischen Geschehnisse
ungewöhnlich schnell in Vergessenheit geraten sind! Bereits zweihundert
Jahre später verblasst der Ruhm des "seeligen Knaben Conrad
Bächerer", obwohl er als Märtyrer galt und ihm in diesem
Zusammenhang auch Wunderkräfte nachgesagt wurden. Er wurde sogar
in bestimmten Notsituationen um Hilfe angerufen und mit Opfern bedacht.
Während andere Märtyrer bis zum heutigen Tage verehrt und
angerufen werden, ist die Erinnerung an den Jungen aus dem Gedächtnis
gelöscht. Nur bei Kirchenführungen wird noch auf ihn hingewiesen.
Lassen
wir nun die wenigen uns bekannten "urkundlichen Nachrichten"
zu Wort kommen.
Andreas Toppius (1646)
"Im
Jahre 1303 haben die Jüden einen Schüler zu Weissensee,
dessen Name Conradus Bacherer, in der Marterwochen heimlich gemartert
und mit Pfriemen unter den Nägeln an Händen und Füßen
gestochen, auch das Blut zu allen Adern heraus gelassen, bis er gestorben.
Da sie aber den Leichnam aus Weissensee hinweg geschleppet, ihn heimlich
zu verscharren, haben sie nirgends damit, ob sie es gleich im Thüringer
Lande hin und her versucht, in die Erde kommen können. Als nun
offenbahr worden und ausgebrochen, hat Marggraf Friedrich, Landgraf
Albrechts Sohn, sich dahin begeben und mit der Besatzung, so im Schlosse
gelegen, und der ganzen Bürgerschaft Beystand, die Jüden
angegriffen und allesamt todt geschlagen. Es ziehen Rivandri und Becherers
Thüringische Chroniken den Mord dieses Knaben ins 1304. Jahr.
Aber es ist hierin mehr zu glauben Sifrido, Prebystero Misnenti, Epit.
hist. lib 2., der damahls, als dies geschehen, gelebt hat und es ins
1303. Jahr setzet, mit welchem auch übereintrifft das Datum des
Fürstlichen Patents, davon bald weiter zu sagen.
Es
wurden auch um dieses an dem Knaben begangenen Mords willen alle Jüden
durch gantz Thüringen umbracht.
Da man nun den Schüler begraben wollen, und ihn in S. Peters
Kirche getragen, soll in Beysein hochgedachten Landgraf Friedrichs
ein Wunderzeichen dabey geschehen seyn, daß, ein Lahmer alsobald
gesund und gerade worden, welches nach der Zeit Aberglauben die Papistischen
Geistlichen dem Fürsten eingebildet, daß, es intercessione
felicissimi adolescentis, durch des entleibten Schülers Conradi
Fürbitte bey GOTT zu wege bracht sey, wie das Patent, so unter
seinem Fürstlichen Nahmen an die Thurmkirche zu Meissen redet."
F.B von Hagke, Urkundliche Nachrichten, 1867
...
Unter der Regierung des Landgrafen Friedrich I. ereignete sich im
Jahre 1303 zu Weißensee ein merkwürdiger Fall. Es wurde
nämlich eines Tages in aller Frühe in einer Hütte der
Weinhöfe bei Weißensee ein Knabe und Schüler namens
Conrad Bächerer, dessen Vater wahrscheinlich früher in Sömmerda
ansässig gewesen war und daher Berld von Somerde, Ritter und
Burgmann zu Weißensee genannt wird, aufgehängt gefunden.
Man bürdete nach der Sitte der damaligen Zeiten die Ermordung
dieses Knaben sofort den Juden auf, welche der Sage nach vor jedem
Osterfeste einen Christen zur Wiederholung der Kreuzigung Jesu töteten,
und fand darin einen willkommenen Vorwand zu einer allgemeinen Judenverfolgung,
nicht allein in der Stadt Weißensee und Umgegend, sondern in
ganz Thüringen, wobei viele Juden erschlagen wurden und nur wenige
mit ihrer Habe sich retten konnten.
Aus
dem jedenfalls unechten Berichte, welchen der zur Untersuchung dieses
Mordes von der Wartburg nach Weißensee gesandte Markgraf Friedrich
an seinen Vater Albrecht den Unartigen hierüber Bericht erstattet
haben soll (vergleiche: Olear. Synt. Thur. Tom. II. pag. 259, Mencken.
scr. rer. germ. II. pag. 494, III. pag. 312, Joh. Rothe, Thür.
Chron. pag. 500 und 593), ersieht man deutlich, daß die Legende
des Stoffes sich sofort bemächtigt hat, denn nach demselben sollen
die Juden nicht allein nicht im Stande gewesen sein, den guten seligen
Conrad zu beerdigen oder zu verbergen, weil weder das Wasser noch
die Erde ihn angenommen, weshalb sie ihn endlich aufgehängt hätten,
sondern es sollen auch bei dem Begräbnis des höchstseligen
Jünglings auf Intervention desselben bei der Mutter Gottes und
den lieben Heiligen Zeichen und Wunder geschehen sein. ...
"Die Juden im thür.-sächsischen Gebiet während
des Mittelalters"
Author: Dr. Siegfried Neufeld (1917)
...
Deutlich tritt das Ritualmärchen als Veranlassung 1303 in Weißensee
auf. Dort töten die Juden nach den Berichten einen Knaben Conrad,
Sohn eines Bergmannes (gemeint ist "Burgmann") von Sömmerda,
und werden deshalb nicht nur in Weißensee, sondern auch in einigen
benachbarten Orten, jedoch nicht in Erfurt, getötet. Die Verfolgung
wird anscheinend von Markgraf Friedrich, dem Sohn des Thüringer
Landgrafen Adelbert, geleitet. In Erfurt werden sie nur infolge ihres
vielen Geldes, mit dem sie sich loskaufen, verschont. Dass es sich
wirklich um einen Ritualmord vor dem Pessachfest handelt, wird mit
allen Einzelheiten nur in einer Quelle berichtet (Sifridi de Balnhusin).
Ein jüdischer Bericht zählt uns die Namen der Opfer, im
ganzen ca. 125 Personen, auf; Weißensee muß demnach, wenn
es sich wirklich nur um Opfer aus diesem Orte handelt, eine recht
ansehnliche jüdische Gemeinde gehabt haben, zumal anzunehmen
ist, daß noch manche Juden sich zu retten wußten. Von
den Nachbargemeinden, die gleichfalls von der Verfolgung heimgesucht
wurden, nennt der jüdische Bericht Gotha mit 8 Opfern, ferner
Kölleda und Bad Tennstedt ...